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Wider das Vergessen – Aufarbeitung des Nationalsozialismus

„Geschichte vor Ort erfahrbar machen“

Monika Jungfleisch ist Gründerin des Aktionsbündnisses „Stolpersteine für Riegelsberg“.  Die Journalistin, die Politik und Geschichte studiert hat und über 20 Jahre die Lokalredaktion einer Zeitung leitete, hatte schon immer einen Bezug zu Heimatthemen. Die Arbeit, die vorher rein ehrenamtlich erfolgte, wird nun durch „Demokratie leben!“ gefördert. 

13 Stolpersteine in Riegelsberg verlegt

Im Jahr 2013 wurde in Riegelsberg ein weiteres Denkmal für die gefallenen Soldaten des 2. Weltkriegs geplant. Doch was ist mit der Erinnerung an die Opfer des Nationalsozialismus?

Es war an der Zeit, nach den Opfern zu recherchieren und diese vor Ort sichtbar zu machen. So begannen die Recherchen. Zunächst hieß es auf Nachfrage bei der Gemeinde, es seien keine Akten auffindbar. Nach einem öffentlichen Aufruf in der lokalen Zeitung meldeten sich dann Zeitzeugen und sogar eine Mitarbeiterin der Gemeinde. Es gab durchaus Akten. Aus diesen ging hervor, woher die Menschen zugezogen waren und welcher Religion sie angehörten. Der Eintrag „J“ bei Religion stand für jüdisch. Einige jüdische Menschen sind schon 1934/35 aus Riegelsberg weggezogen, als sie merkten, was in Deutschland passierte und die Bedrohung größer wurde. Dennoch unterschätzten viele die Gefahr, haben geglaubt, so schlimm werde es nicht werden. Dennoch wurden bereits 1934, noch vor der Eingliederung des Saargebietes an das deutsche Reich, antisemitische Parolen an Schaufenster jüdischer Kaufleute geschmiert. Eine in Riegelsberg von den Schmierereien betroffene Familie zog daraufhin weg, zunächst nach Püttlingen, eine Gemeinde weiter. Die Familie erlebte dort, dass es immer schlimmer wurde, floh nach Frankreich, lebte dort bis 1943 noch unbehelligt. Und wurde dann 1943 von Frankreich nach Auschwitz deportiert. Ein Mädchen aus Püttlingen hat ein vergleichbares Schicksal wie Anne Frank erlebt. Auch sie wurde nach Auschwitz deportiert, musste den Todesmarsch von Auschwitz nach Bergen-Belsen erleiden und starb nur wenige Tage nach der Befreiung an den Folgen von Schwäche und Krankheit. Diese Parallelen gehen unter die Haut. 

Bei der Recherche entstand die Idee, es sei am sinnvollsten, ein wiederkehrendes Projekt ins Leben zu rufen. Am besten zusammen mit einer Schule. So wurde die „Leonardo-da-Vinci“-Gemeinschaftsschule in Riegelsberg angesprochen. In Abstimmung mit der Schulleitung und der Fachlehrerin konnte das Projekt einer neunten Klasse vorgestellt werden. Einige Schüler:innen waren gleich Feuer und Flamme, recherchierten und werteten die Akten aus. Vorsichtig, mit weißen Handschuhen, um die Dokumente zu schützen. 

Dann wurden die ersten Opferbiografien veröffentlicht, die ersten Stolpersteine wurden verlegt vor den Häusern, in denen die Menschen bis zu ihrer Deportation gelebt hatten. Diese Stolpersteine werden seitdem jedes Jahr von einer neunten Klasse geputzt, weil in der neunten Klasse der Nationalsozialismus auf dem Lehrplan steht und die Schüler:innen auf das Thema vorbereitet sind.

Ein besonderes Anliegen ist, dass die Jugendlichen Geschichte vor Ort erfahren, dass Geschichte nicht abstrakt bleibt. Dass das, was in der Zeit des Nationalsozialismus passierte unmittelbare Auswirkung auf das Leben der Menschen in ihrem Ort hatte. Die jungen Menschen könnten sich dabei immer wieder die Frage stellen: Was hat das mit mir zu tun? Es gehe darum „Geschichte immer wieder runter zu brechen auf Ortsebene und so erlebbar zu machen“, so Monika Jungfleisch.

Ziel des Projekts ist, Jugendliche nachhaltig mit Geschichte in Berührung kommen zu lassen und nicht nur abstrakt über Geschichtsbücher. Auf einer Ebene, die für diese nachvollziehbar ist. Es haben 13 Juden mit diesen Namen und Gesichtern in diesen Häusern gelebt. Und die sind geflohen oder deportiert  oder beschützt worden.

Erforschen des Schicksals der „Euthanasie“ Opfer 

Weiterer Schwerpunkt des Projekts ist das Erforschen des Leidens der „Euthanasie“ Opfer. Denn auch Psychatriepatient:innen aus Köllerbach wurden u. a. in der Tötungsanstalt Hadamar ermordet. In diesem Zusammenhang findet auch ein Besuch des Psychiatriemuseum in Merzig statt. Für die „Euthanasie“ Opfer werden die Steine voraussichtlich im Juni 2023 verlegt werden können, wenn noch weitere Informationen vorliegen. Über diese Opfer ist leider wenig zu erfahren. Anders als bei den jüdischen Menschen sind keine Fotos, keine Nachkommen und nur wenig Informationen zu bekommen. Daher gibt es die Idee, vorm Rathaus mit einer Stolperschwelle an sie zu erinnern.

„Alternative Stadtrundfahrten“

Neben der Verlegung von Stolpersteinen für die Opfer des Nationalsozialismus ist ein weiterer Schwerpunkt des Projekts die Sichtbarmachung der Stätten der Nazi-Herrschaft im Saarland. Wo befindet sich die Schillerschule, die bereits Anfang der 1930-iger Jahre gegründet wurde, um jüdische Kinder vor zunehmenden  Repressalien ihrer Mitschüler:innen zu schützen? An welchen Orten im Saarland gab es Gestapozellen? Wo gab es Orte des Widerstands? Wo ist Willi Graf beerdigt? Was mussten ebenfalls auf dem Friedhof St. Johann beerdigte Zwangsarbeiter:innen erleiden? Wie waren die grausamen Lebensbedingungen für die Gefangenen im Gestapolager „Neue Bremm“, welches oft verharmlosend als „Durchgangslager“ bezeichnet wird? Wo in Saarbrücken wurden Ende April 1945 kurz vor Ende des Krieges zwei junge Männer erschossen, die aus Hunger Marmeladengläser aus einem zerbombten Haus entwendeten? 

Diese Stätten aufzusuchen, ist das Ziel der „alternativen Stadtrundfahrten“. Sie finden derzeit ebenfalls mit 9er und 10er Klassen aus Riegelsberg statt, werden aber auch für interessierte Erwachsene angeboten. 

Was ist für die Zukunft geplant?

Ein Wunsch ist, das Projekt auch auf Schulen in Saarbrücken auszudehnen. Einige Schulen haben bereits großes Interesse bekundet.    

Gerne würde Frau Jungfleisch auch ein bereits begonnenes Zeitzeugenprojekt vollenden. Hierzu wurden Menschen aus Riegelsberg u. a. zu den Themenkomplexen Schulzeit, Kriegszeit und Nachkriegszeit bereits interviewt und gefilmt. Leider war damals die Förderung nicht ausreichend. Das Rohmaterial gibt es bereits, es liegt in der Schublade und wartet darauf, bearbeitet zu werden. Es wäre schade, wenn dieses bereits vorhandene Filmmaterial der Zeitgeschichte vor Ort verloren ginge. 

Für die Zukunft plant Frau Jungfleisch zudem weitere Fahrten und Projekte. Fahrten nach Verdun konnten zum Jahresende noch durchgeführt werden. Fahrten ins KZ nach Strutthoff, nach Hinzert oder Dachau sowie zur Gedenkstätte in Hadamar stehen auch auf dem Wunschzettel. Immer mit dem Ziel, Geschichte vor Ort erlebbar zu machen.