Flagge zeigen fürs Grundgesetz
Für mich war die Tatsache, dass die Bundesrepublik ein modernes Grundgesetz hat, eine Selbstverständlichkeit. Ich bin halt damit aufgewachsen. Sie war so selbstverständlich, dass ich mir als junger Mensch gerne das Recht herausgenommen habe, stets zuerst auf das zu schauen, was mir darin gefehlt hat oder einfach nur sprachlich zu konservativ erschien. Ich habe mir den Luxus erlaubt, nicht anzuerkennen, welche Leistung darin steckte, dass dieses Land, aus einer Diktatur kommend, binnen weniger Jahre seinen Weg in die Demokratie fand (braune Altlasten leider eingeschlossen). Meinungsfreiheit, Redefreiheit, Versammlungsrecht – für Menschen meiner Generation, in den sechziger Jahren geboren, waren sie einfach da und nichts, worauf man besonders stolz sein musste.
Das hat sich geändert. Natürlich empört es mich noch immer, dass in den 1990er Jahren das Grundrecht aus Asyl in Artikel 16 ausgehöhlt wurde. Und natürlich bin ich heute dafür, dass das Wort „Rasse“ aus Artikel 3 gestrichen wird. Aber diese, aus meiner Sicht berechtigte Kritik, kann niemals das große Ganze in Frage stellen: ein Grundgesetz, das den Menschen in diesem Land Rechte garantiert wie kaum ein anderes Land.
Seit vielen Jahren führt die Landeshauptstadt Saarbrücken (außer während der Pandemie) Monat für Monat eine Einbürgerungsfeier im Rathaus durch. Ich bin fast immer dabei. Ehrlich – ich bekomme Gänsehaut, wenn Menschen ans Mikrofon treten und mit offensichtlicher Rührung in der Stimme sprechen: „Ich erkläre feierlich, dass ich das Grundgesetz und die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland achten und alles unterlassen werde, was ihr schaden könnte.“ Klar, das ist nicht bei allen so. Für manche ist die Einbürgerungsurkunde, ist der deutsche Pass und das Grundgesetz, das ihnen an diesem Tag ausgehändigt wird, in erster Linie ein Türöffner zu Reisefreiheit, Berufsfreiheit und sonstige praktische Vorteile. Das ist auch völlig in Ordnung. Bei vielen aber – und das haben mir zahlreiche Gespräche am Rande von Einbürgerungsfeiern gezeigt – ist es eben doch mehr: nämlich ein endgültiges Ankommen in einem Rechtsstaat, der nicht vollkommen sein mag, der aber doch so viel mehr an Rechten bereit hält als der überwiegende Teil der Staaten auf diesem Globus. Wenn ich in den ersten Seiten des Grundgesetzes blättere, den Grundrechteartikeln, dann bleibe ich noch immer an diesen schlichten wie tiefgreifenden Sätzen hängen: „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.“ „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit.“ In meiner Verwandtschaft und meinem Bekanntenkreis gibt es viele Menschen, die zeitweise oder auf Dauer in anderen Ländern leben: Türkei, China, Nigeria. Niemand von ihnen würde das deutsche Grundgesetz gegen ein anderes eintauschen und die deutsche Staatsbürgerschaft aufgeben wollen. Sagen, was man denkt. Sich treffen, mit wem man will. Beschützt werden, selbst wenn man gegen den eigenen Staat demonstriert – das sind Errungenschaften, für die der Einsatz lohnt.
Ich habe großen Respekt vor Menschen, beispielsweise in und aus der Ukraine, die mit höchstem Einsatz für Demokratie und Freiheit kämpfen. Wenn ich die Sonntagsdemonstrationen vor dem Saarbrücker Staatstheater besuche, oder wenn ich Putin-Gegnerinnen in Russland sehe, fühle ich mich manchmal beschämt. Gegen rechts auf die Straße gehen – klar, das mache ich. Kostet ja nichts. Aber aktiv für Demokratie und Freiheit demonstrieren – auch dann, wenn es gefährlich wird? Wir hatten das Glück, uns einrichten zu können in der Bequemlichkeit eines luxuriösen Grundgesetzes. Ich glaube, es ist an der Zeit, von diesem bequemen Sofa aufzustehen, weil die Demokratiefeinde im eigenen Land leider auf dem Vormarsch sind. Jetzt gilt es Farbe zu bekennen. Man muss ja nicht gleich schwarz-rot-goldene Fahnen schwenken. Aber wir müssen den Hintern hochkriegen für das, was uns lieb und teuer ist.
Veronika Kabis
Landeshauptstadt Saarbrücken, Zuwanderungs- und Integrationsbüro